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von Jessica Weber 16. April 2019

Claudia Badertscher/ SRF

Dienstag, 06.03.2018, 20:10 UhrAktualisiert um 22:41 Uhr


  • Die Suva zählt bisher mehr als 2000 Asbest-Tote.
  • Doch auch heute ist der Umgang in der Schweiz oft noch fahrlässig: Die Suva musste allein letztes Jahr 83 Baustellen per sofort stoppen.
  • Arbeiter in Einsiedeln berichten von einem neuen Fall: Sie sind sich sicher, die Fasern eingeatmet zu haben.

Asbest: Das Baumaterial hat eine der grössten Industrie-Katastrophen der Schweiz ausgelöst. Mehr als 2000 Asbest-Tote hat die Suva bisher gezählt, die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Asbest galt einst als Wunderfaser. Doch inzwischen ist das Material in der höchsten Giftklasse gelistet und seit 1990 verboten.

 

Das Problem mit den Altlasten bleibt ungelöst

Nicht gelöst ist allerdings das Problem mit den Altlasten. In den meisten Häusern, die vor 1990 gebaut oder renoviert wurden, steckt asbesthaltiges Material – in unterschiedlichem Ausmass. Und diese Häuser kommen nun alle in die Jahre, werden abgerissen oder umgebaut. Findet sich dabei asbesthaltiges Material, ist grösste Vorsicht geboten.

Doch immer wieder wird damit in der Schweiz fahrlässig umgegangen – trotz Wissen um die Gefährlichkeit. Das zeigen Recherchen von «10vor10».

Die Schweizerische Unfallversicherung Suva – für die Kontrollen zuständig – muss immer wieder Baustellen per sofort stoppen, weil «trotz des Verdachts auf das Vorhandensein asbesthaltiger Materialien» die sogenannte Ermittlungspflicht nicht durchgeführt wurde.

So musste die Suva letztes Jahr in 83 Fällen gar eine «sofortige Einstellung der Arbeiten» verfügen. Der Betrieb muss dann den Verdacht ausräumen und Schutzmassnahmen umsetzen. Weitergearbeitet werden darf erst danach.

Doch Gefahr droht auch bei der Entsorgung. Nun berichten Arbeiter in Einsiedeln von einem neuen Fall. Sie sind sich sicher, die hochgiftigen Fasern eingeatmet zu haben – und befürchten nun, tödlich zu erkranken. Die drei berichten übereinstimmend: Sie hätten immer wieder ohne Schutz mit altem Eternit arbeiten müssen. Eternit, das älter ist als 1990, enthält meist Asbest.

Arbeiter berichten: Wir haben Asbest-Fasern eingeatmet

So lange sie festgebunden sind, sind die Fasern unbedenklich. Für die Bewohner der Häuser besteht darum keine Gefahr. Doch werden die Fasern freigesetzt und eingeatmet, können sie tödliche Krankheiten wie Lungenkrebs und Brustfellkrebs – das Mesotheliom – auslösen.

Der Bund schreibt für das Arbeiten mit asbesthaltigem Eternit vor: «Mechanische Einwirkungen wie Fräsen, Bohren oder Zerbrechen sind zu vermeiden.» Denn dabei werden potenziell viele der gefährlichen Fasern freigesetzt. Im Umgang mit asbesthaltigem Material ist Atemschutz obligatorisch, je nach den Umständen auch Spezialschutzkleidung. Zuständig für die Ermittlung der Risiken ist der Arbeitgeber.

Die drei Männer arbeiteten im Entsorgungs-Center «Schädler Mulden AG» in Einsiedeln im Kanton Schwyz. Zum Beispiel mit altem Well-Eternit oder den sogenannten «Stromer-Tableaus». Einer der Arbeiter erzählt: «Das Well-Eternit wurde palettiert angeliefert. Wenn es alt war, war es mooshaltig und brüchig – und wenn man es berührt hat, ist es zerbröselt.»

Solches Material sei ohne Vorwarnung nahe der Arbeiter gekippt worden. Danach habe einer es mit einem Stapler in eine Mulde werfen müssen. Und: «Dann mussten wir es noch mit dem Bagger zerstossen und zerkleinern – wobei sich regelmässig Staub entwickelte». Die Arbeiter sagen, sie hätten von einer Ladung eine Probe genommen und eingeschickt. Das Labor-Ergebnis legen sie «10vor10» vor. Es zeigt: Die Probe enthielt festgebundenes Asbest.

«In der heutigen Zeit ein absoluter Skandal»

Atemschutz habe man auch bei der Arbeit mit alten Elektro-Tableaus aus Eternit nicht getragen. Sind diese asbesthaltig, dürften sie nur von Suva-anerkannten Asbestsanierungsunternehmen zerlegt werde. Alte Tableaus seien von Elektrikern zwar korrekt staubdicht verpackt angeliefert worden. Aber: «Diese Säcke mussten wir dann aufschneiden, um die Tableaus auseinanderzunehmen».

Für Karl Klingler, Mitgründer der Vereinigung für Asbestopfer und Angehörige und Lungenarzt an der Zürcher Hirslanden-Klinik, ist das verantwortungslos: «Das ist natürlich in der heutigen Zeit ein absoluter Skandal. Man müsste eigentlich meinen, dass man aus der Vergangenheit etwas gelernt hat.»

Beim Kippen von Eternit entstehe keine Staubwolke

Die «Schädler Mulden AG» nimmt schriftlich Stellung: «Anlieferungen von Eternit sind selten (im Durchschnitt wohl weniger als einmal monatlich).» Wie alt der Eternit war, sei unklar. Es sei möglich, dass dieses Asbest enthalten habe. «Nicht zutreffend ist aber, dass beim Kippen von Eternit eine Staubwolke entsteht. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass wir über eine Berieselungsanlage verfügen. Wenn sich daher Staub bildet, ist es in der Verantwortung der Mitarbeiter, diese Anlage in Betrieb zu nehmen.» Und: «Uns ist völlig unbekannt, ob, wann, von wem und wo Proben genommen worden sind.»

Elektro-Tableaus seien zudem nicht demontiert, sondern ohne weitere Verarbeitung weitergeleitet worden. Weiter schreibt die Firma: «Wir wurden von den Mitarbeitern zu keinem Zeitpunkt darauf hingewiesen, dass weitere Schutzbekleidung oder Atemmasken benötigt werden, sonst hätten wir diese selbstverständlich umgehend abgegeben.»

David Husmann, Anwalt der Arbeiter und Präsident des Vereins für Asbestopfer und Angehörige, sagt, da sei die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers verletzt worden. Er prüft jetzt auch strafrechtliche Schritte.


von Jessica Weber 8. März 2019

Der heilige Zorn hat den Mann auf der Bühne erfasst. Mit seinem weissen Bart sieht er aus wie ein Prophet aus dem Alten Testament, er schleudert anklagende Worte ins Publikum, rattert gigantische Zahlen von Toten herunter und ruft entschlossen zum Kampf auf. «Wir wollen Gerechtigkeit», ruft er in den brechend vollen Saal, «Gerechtigkeit für das schreckliche Attentat auf die Gesundheit!» Applaus brandet auf.

Der Mann heisst Fulvio Aurora, er ist Gewerkschaftler und einer der suggestivsten Redner im Teatro Comunale am Corso del Popolo in der italienischen Stadt Monfalcone. Wo sonst Musicals oder Komödien über die Bühne gehen, fand im November die nationale Asbestkonferenz statt. 600 Gewerkschaftler, Asbestopfer, Politiker, Beamte, Epidemiologen und Asbestspezialisten füllten den grössten Saal der Stadt bis auf den letzten Platz.

Die Veranstaltung machte deutlich, dass in der leidigen Asbestgeschichte derzeit ein weiteres Kapitel aufgeschlagen wird: Die Asbestverarbeiter von einst sollen zur Kasse gebeten werden, der Kampf um Entschädigungen kommt in die entscheidende Phase, und neue Prozesse sind in Vorbereitung. Im Visier der Asbestopfer und Gewerkschaftler ist auch ein prominenter Schweizer: Stephan Schmidheiny.

Die Hafenstadt Monfalcone östlich von Triest ist nicht zufällig Schauplatz der Asbestkonferenz. Hier stehen die Fincantieri-Werften, wo man das scheinbar perfekte Mineral während Jahrzehnten massenweise zum Brandschutz in Schiffen verwendete. 400 Todesfälle von Werftarbeitern und Seeleuten werden mit Spritzasbest in Zusammenhang gebracht. Da Fincantieri neben Frachtern und Musikdampfern auch viele Schiffe für die italienische Marine mit Spritzasbest isolierte, sind jetzt zwei gerichtliche Untersuchungen parallel im Gang: eine durch die Staatsanwaltschaft, die andere durch die Militäranwälte der Procura Militare di Padova.

Asbestzement entwickelte sich nach seiner Erfindung im Jahr 1900 rasch zum Welterfolg. Auch in Italien wurde dieses solide, dauerhafte und preiswerte Material in Kürze populär. 1906 gründete der Italiener Alfredo Mazza die Eternit SpA mit Sitz in Genua. In Casale südwestlich von Mailand liess Mazza die Fabrik hochziehen, wo während achtzig Jahren Asbestzement produziert werden sollte.

1952 verkaufte die Familie Mazza Anteile an die belgische, die schweizerische und die französische Eternit-Gruppe. Mitte der siebziger Jahre war die Schweizer Eternit mit 29 Prozent der grösste Einzelaktionär und wurde nach diversen Kapitalerhöhungen zur Sanierung der Fabriken 1980 Hauptaktionär.

Stephan Schmidheiny übernahm in dieser Zeit die Eternit Schweiz, 1984 erbte er dann die ganze international tätige Gruppe. Schon Mitte der siebziger Jahre hatte er den Ausstieg aus dem Asbestgeschäft geplant – und sich damit den Zorn der internationalen Asbestzement-Industrie eingehandelt, die auf das Mineral nicht verzichten wollte.

Wie in den anderen Werken der international tätigen Eternit-Gruppe wurden in der Schweizer Periode in Casale rasch Verbesserungen eingeführt: Unter der Leitung der belgischen Eternit war Asbest zuvor noch trocken verarbeitet worden – mit entsprechender Staubbildung. Ezio Bontempelli, der zum Messen der Fasern angestellt wurde, erinnert sich, wie das Eternit-Management 1975 die Asbestverarbeitung sofort aufs Feuchtverfahren («bagnato») umstellte und damit das Risiko der Faserverschmutzung radikal verringerte.

Der Wandel im Sicherheitsdenken ist eng verknüpft mit dem Generationenwechsel bei den Schmidheinys. Die gesundheitstechnischen Umstellungen in Casale, einem riesigen Werk mit weit über tausend Arbeitern, dauerte ein Jahr. Inzwischen verschärfte sich die wirtschaftliche Lage für die italienische Eternit, denn viele kleine Eternit-Firmen konnten billiger liefern, unter anderem, weil sie lasche Sicherheitsstandards hatten.

Die Umsätze der Eternit SpA brachen innert weniger Jahre um die Hälfte ein, Verluste in Höhe von 20 Millionen Franken liefen auf, worauf die Firma 1986 Pleite ging. 1992 kam es zum Prozess gegen das Management der italienischen Eternit. Die grösste Gewerkschaft des Landes, die CGIL, und der Bürgermeister der Stadt Casale, Riccardo Coppo, hatten eine Klage eingereicht. Zwischen 1955 und 1986 waren von den erfassten 3365 Eternit-Mitarbeitern 953 Personen gestorben.

Zwei Dutzend leitende italienische Mitarbeiter und der Delegierte des Verwaltungsrates der Eternit SpA Genua, Leo Mittelholzer, kamen vor den Kadi und wurden zum Teil wegen fahrlässiger Tötung zu Haftstrafen verurteilt; bezahlt wurden rund fünf Millionen Franken.

Damit war die Geschichte jedoch nicht ausgestanden, und dabei wollen es viele Kläger auf keinen Fall bewenden lassen: «Asbestzement und die Folgen der Asbestverarbeitung in den Fabriken sind unser grösstes Umweltproblem», erklärt der Bürgermeister von Casale, Paolo Mascarino, in seinem stilvollen Büro in einem historischen Palazzo im Zentrum der Altstadt. In Casale betrieb Eternit ihre landesweit grösste Fabrik, und auch kleinere Firmen produzierten hier den gefragten Asbestzement. «Mehrere Generationen haben in dieser Fabrik ihren Lebensunterhalt verdient», sagt Mascarino, «von praktisch jeder Familie arbeitete ein Mitglied bei der Eternit.» Heute gibt es hier auf 100 000 Einwohner jährlich 15,54 Mesotheliomfälle, in der italienischen Stadt Vercelli zum Beispiel sind es nur 0,18.

«Wir sind weder auf die italienische Gründerfamilie noch auf die Belgier oder auf die Schweizer Industriellen wütend», erklärt Stadtpräsident Paolo Mascarino. «Wir wollen allerdings Hilfe von der verursachenden Industrie, um die Folgen dieser Katastrophe zu bewältigen.» Ein Fonds, aus dem die Auslagen der italienischen Kommune, aber auch Härtefälle und die Aufräumarbeiten entschädigt würden, wäre durchaus eine praktikable Lösung, meint der Sìndaco.

Nicht immer indes hat der Kampf um Entschädigungen redliche Gründe. Asbest ist auch ein Vehikel, um zu einer Rente oder einer Kompensation zu kommen. Und ein lukratives Betätigungsfeld für Juristen. «Nicht alle, die Asbest die Schuld geben, sind auch daran erkrankt», sagt in Casale etwa der Taxifahrer auf der Fahrt zum Bürgermeister, «manche wollen einfach bequem zu Geld kommen.»

Viele Forderungen haben sich bei genauer Betrachtung als unbegründet erwiesen. Inail, die staatliche Versicherung für Berufskrankheiten, vergleichbar mit der Suva, hat bisher offiziell 87 000 Gesuche als unbegründet abgelehnt – 254 703 Personen hatten sich bei der Versicherung gemeldet, 97 096 Fälle sind für eine Rente anerkannt worden.

Viele italienische Arbeiter waren auch im Eternit-Werk in Niederurnen beschäftigt – in einem aggressiven Flugblatt an der Asbestkonferenz flugs zur «Weltkapitale der Asbestzementproduktion» heraufstilisiert. «Die Exposition gegenüber der Krebs erzeugenden Faser geschah in den Schweizer Eternit-Fabriken ohne jeglichen Schutz», behauptet ein Papier der Asbestopferorganisation Associazione Esposti Amianto (AEA) und nennt das Werk «Todesfabrik» Pikant ist, dass sich ausgerechnet die Gewerkschaften, die jetzt Front gegen die damalige Asbestindustrie machen, lange gegen ein Rauchverbot für Arbeiter in den Asbest verarbeitenden Fabriken gestemmt hatten, weil dies die persönliche Freiheit tangiere. Obwohl Rauchen das Risiko, an der Lungenkrankheit Asbestose und dem Asbestkrebs Mesotheliom zu erkranken, exponentiell erhöht. Der heimtückische Krebs von Brust- oder Bauchfell wird in der Regel dreissig oder mehr Jahre nach dem Kontakt mit der Faser ausgelöst.

Bis ins Jahr 2000 hat das nationale Mesotheliom-Register 3446 Fälle erfasst. 52 Prozent der Erkrankungen sind eindeutig auf berufliche Exposition zurückzuführen. Bei weiteren 13 Prozent ist eine Berufskrankheit möglich. Von den restlichen Fällen sind 3,3 Prozent auf Asbestexponierung in der eigenen Wohnung zurückgeführt worden, rund 4 Prozent sollen wegen Asbest in der Umwelt erkrankt sein. Bei allen anderen Fällen kann die Ursache nicht festgestellt werden.

Das Asbestdrama hat in einer Kette von Prozessen Italiens Justiz auf den Plan gerufen. Gegenwärtig laufen zwei Verfahren gegen Ansaldo Breda, einen Hersteller von Rollmaterial für Eisenbahnen. 14 Manager dieser zur Finmeccanica-Gruppe gehörenden Firma sind wegen Totschlag angeklagt. Auch Pirelli, die neben Autopneus unter anderem Energiekabel produziert, steht unter Anklage, weil sie Asbest verwendet hat. Gegen Manager, die zwischen 1960 und 2000 das Sagen hatten, ist eine Untersuchung des Turiner Staatsanwalts Raffaele Guariniello im Gang. Den Managern wird die Verantwortung am Tod von 35 Arbeitern angelastet.

Die italienische Eternit steht in zwei Verfahren im Visier der Justiz. Rund hundert Mitarbeiter des einstigen Eternit-Werks im sizilianischen Siracusa ersuchten Ende November das Arbeitsgericht in Genua – ehemals Standort des Eternit-Hauptsitzes –, vorsorglich von Stephan Schmidheiny 58 Millionen Euro zu beschlagnahmen. Dass ausgerechnet der Industrielle, der gegen den Widerstand der ganzen Branche den Asbest im Werkstoff Eternit ersetzte, im Visier der italienischen Justiz steht, gehört zu den absurden Aspekten dieses Dramas. Bereits früher waren – bisher allerdings ergebnislos – zivilrechtliche Forderungen von weiteren Arbeitern und deren Angehörigen über 60 Millionen Euro erhoben worden. Eine Verhandlungsrunde zur Frage der Zuständigkeit findet nächstens statt.

In einer zweiten Ermittlung führt der Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello eine strafrechtliche Voruntersuchung durch. Dabei geht es um Todesfälle italienischer Gastarbeiter, die in Schweizer Eternit-Fabriken arbeiteten. Die Eternit AG entsprach 2003 nach anfänglicher Weigerung auf Geheiss des Schweizer Bundesgerichts dem Rechtshilfebegehren und schickte die Krankheitsgeschichten von Asbestopfern nach Turin. Eine zweite Ermittlung betrifft die möglichen Verantwortlichkeiten der Eternit-Gruppe für erkrankte Mitarbeiter im Werk Casale.

Peter Schürmann, Sprecher von Stephan Schmidheiny, blickt mit Sorge auf die Entwicklung in Italien: «In andern Ländern hat man die Geschädigten in den Mittelpunkt gerückt», sagt er. Staat, Industrie, Gewerkschaften, Versicherer und Geschädigte hätten sich zusammengetan und das Äufnen eines Fonds beschlossen, aus dem Betroffene rasch und mit vernünftigen Beträgen entschädigt werden können – alles aussergerichtlich.

«Jedes Opfer ist eines zu viel», erklärt Schürmann, «in Italien scheint es aber nicht möglich zu sein, dass die Beteiligten einen Marschhalt einlegen und überlegen, was sinnvoll im Sinne der Geschädigten sein könnte.» Stattdessen werde vor allem auf Eternit und Schmidheiny eingeprügelt, gedroht und angezeigt. «Mit der Aussicht auf jahrelange Rechtsverfahren mit ungewissem Ausgang.»

Werner Catrina ist Autor des 1985 im Orell Füssli Verlag erschienenen Buchs «Der Eternit-Report», das den Ausstieg der Schweizer Eternit-Gruppe aus dem Asbest unter dem damaligen Eternit-Besitzer Stephan Schmidheiny dokumentiert.


Veröffentlicht, 08.02.2005 Bilanz Unternehmen

von Jessica Weber 8. März 2019

Der weltweite Verbrauch von Asbest erreichte 1975 den Höchstwert von fünf Millionen Tonnen. In jenem Jahr verbot Schweden die Anwendung, in den USA trat ein Verbot von Spritzasbest in Kraft, und mehr und mehr Studien belegten den Zusammenhang der Faser mit der Krebsart Mesotheliom.

1924 wurde die mit der Asbestexposition zusammenhängende Lungenkrankheit Asbestose erstmals in einer medizinischen Fachzeitschrift erwähnt. Den Krebs Mesotheliom brachten Ärzte Anfang der sechziger Jahre mit Asbest in Zusammenhang, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte diese Krankheit aber erst später. In den Vereinigten Staaten wurde 1938 die erste Belastungsgrenze für Asbestfeinstaub erlassen: 39 Fasern pro Milliliter. Heute gilt der Grenzwert von 0,1 Fasern – beinahe 400-mal weniger. Moderne Elektronenmikroskope machten den Fortschritt möglich.

Bei der Schweizer Eternit begann das Ersetzen von Asbest durch gesundheitlich unbedenkliche Fasern im Jahr 1978 mit dem Einstieg von Stephan Schmidheiny, der die in Europa, Lateinamerika und Südafrika tätige Gruppe 1984 geerbt hatte. Heute werden weltweit immer noch rund zwei Millionen Tonnen Asbest pro Jahr verbraucht. Die wichtigsten Produzenten sind Russland (700 000 Tonnen jährlich), China (450 000) und Kanada (335 000), das auch heutzutage noch aggressiv für den Werkstoff Asbest Lobbyarbeit betreibt. Weitere bedeutende Produzenten sind Kasachstan, Brasilien sowie Simbabwe.

In Europa und Nordamerika ist die Anwendung des Werkstoffs verboten, praktisch die gesamten Tonnagen gehen in Entwicklungs- und Schwellenländer, wo die Sicherheitsmassnahmen meist unzureichend sind. Diese Länder, die aus den dramatischen Erfahrungen nichts lernen wollen, werden in ein paar Jahrzehnten die tödlichen Folgen ernten.

Veröffentlicht: 08.02.2005, Bilanz Unternehmen

von Jessica Weber 5. März 2019
Johnson & Johnson kassiert Milliardenstrafe wegen Asbest
von Jessica Weber 16. April 2019

Claudia Badertscher/ SRF

Dienstag, 06.03.2018, 20:10 UhrAktualisiert um 22:41 Uhr


  • Die Suva zählt bisher mehr als 2000 Asbest-Tote.
  • Doch auch heute ist der Umgang in der Schweiz oft noch fahrlässig: Die Suva musste allein letztes Jahr 83 Baustellen per sofort stoppen.
  • Arbeiter in Einsiedeln berichten von einem neuen Fall: Sie sind sich sicher, die Fasern eingeatmet zu haben.

Asbest: Das Baumaterial hat eine der grössten Industrie-Katastrophen der Schweiz ausgelöst. Mehr als 2000 Asbest-Tote hat die Suva bisher gezählt, die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Asbest galt einst als Wunderfaser. Doch inzwischen ist das Material in der höchsten Giftklasse gelistet und seit 1990 verboten.

 

Das Problem mit den Altlasten bleibt ungelöst

Nicht gelöst ist allerdings das Problem mit den Altlasten. In den meisten Häusern, die vor 1990 gebaut oder renoviert wurden, steckt asbesthaltiges Material – in unterschiedlichem Ausmass. Und diese Häuser kommen nun alle in die Jahre, werden abgerissen oder umgebaut. Findet sich dabei asbesthaltiges Material, ist grösste Vorsicht geboten.

Doch immer wieder wird damit in der Schweiz fahrlässig umgegangen – trotz Wissen um die Gefährlichkeit. Das zeigen Recherchen von «10vor10».

Die Schweizerische Unfallversicherung Suva – für die Kontrollen zuständig – muss immer wieder Baustellen per sofort stoppen, weil «trotz des Verdachts auf das Vorhandensein asbesthaltiger Materialien» die sogenannte Ermittlungspflicht nicht durchgeführt wurde.

So musste die Suva letztes Jahr in 83 Fällen gar eine «sofortige Einstellung der Arbeiten» verfügen. Der Betrieb muss dann den Verdacht ausräumen und Schutzmassnahmen umsetzen. Weitergearbeitet werden darf erst danach.

Doch Gefahr droht auch bei der Entsorgung. Nun berichten Arbeiter in Einsiedeln von einem neuen Fall. Sie sind sich sicher, die hochgiftigen Fasern eingeatmet zu haben – und befürchten nun, tödlich zu erkranken. Die drei berichten übereinstimmend: Sie hätten immer wieder ohne Schutz mit altem Eternit arbeiten müssen. Eternit, das älter ist als 1990, enthält meist Asbest.

Arbeiter berichten: Wir haben Asbest-Fasern eingeatmet

So lange sie festgebunden sind, sind die Fasern unbedenklich. Für die Bewohner der Häuser besteht darum keine Gefahr. Doch werden die Fasern freigesetzt und eingeatmet, können sie tödliche Krankheiten wie Lungenkrebs und Brustfellkrebs – das Mesotheliom – auslösen.

Der Bund schreibt für das Arbeiten mit asbesthaltigem Eternit vor: «Mechanische Einwirkungen wie Fräsen, Bohren oder Zerbrechen sind zu vermeiden.» Denn dabei werden potenziell viele der gefährlichen Fasern freigesetzt. Im Umgang mit asbesthaltigem Material ist Atemschutz obligatorisch, je nach den Umständen auch Spezialschutzkleidung. Zuständig für die Ermittlung der Risiken ist der Arbeitgeber.

Die drei Männer arbeiteten im Entsorgungs-Center «Schädler Mulden AG» in Einsiedeln im Kanton Schwyz. Zum Beispiel mit altem Well-Eternit oder den sogenannten «Stromer-Tableaus». Einer der Arbeiter erzählt: «Das Well-Eternit wurde palettiert angeliefert. Wenn es alt war, war es mooshaltig und brüchig – und wenn man es berührt hat, ist es zerbröselt.»

Solches Material sei ohne Vorwarnung nahe der Arbeiter gekippt worden. Danach habe einer es mit einem Stapler in eine Mulde werfen müssen. Und: «Dann mussten wir es noch mit dem Bagger zerstossen und zerkleinern – wobei sich regelmässig Staub entwickelte». Die Arbeiter sagen, sie hätten von einer Ladung eine Probe genommen und eingeschickt. Das Labor-Ergebnis legen sie «10vor10» vor. Es zeigt: Die Probe enthielt festgebundenes Asbest.

«In der heutigen Zeit ein absoluter Skandal»

Atemschutz habe man auch bei der Arbeit mit alten Elektro-Tableaus aus Eternit nicht getragen. Sind diese asbesthaltig, dürften sie nur von Suva-anerkannten Asbestsanierungsunternehmen zerlegt werde. Alte Tableaus seien von Elektrikern zwar korrekt staubdicht verpackt angeliefert worden. Aber: «Diese Säcke mussten wir dann aufschneiden, um die Tableaus auseinanderzunehmen».

Für Karl Klingler, Mitgründer der Vereinigung für Asbestopfer und Angehörige und Lungenarzt an der Zürcher Hirslanden-Klinik, ist das verantwortungslos: «Das ist natürlich in der heutigen Zeit ein absoluter Skandal. Man müsste eigentlich meinen, dass man aus der Vergangenheit etwas gelernt hat.»

Beim Kippen von Eternit entstehe keine Staubwolke

Die «Schädler Mulden AG» nimmt schriftlich Stellung: «Anlieferungen von Eternit sind selten (im Durchschnitt wohl weniger als einmal monatlich).» Wie alt der Eternit war, sei unklar. Es sei möglich, dass dieses Asbest enthalten habe. «Nicht zutreffend ist aber, dass beim Kippen von Eternit eine Staubwolke entsteht. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass wir über eine Berieselungsanlage verfügen. Wenn sich daher Staub bildet, ist es in der Verantwortung der Mitarbeiter, diese Anlage in Betrieb zu nehmen.» Und: «Uns ist völlig unbekannt, ob, wann, von wem und wo Proben genommen worden sind.»

Elektro-Tableaus seien zudem nicht demontiert, sondern ohne weitere Verarbeitung weitergeleitet worden. Weiter schreibt die Firma: «Wir wurden von den Mitarbeitern zu keinem Zeitpunkt darauf hingewiesen, dass weitere Schutzbekleidung oder Atemmasken benötigt werden, sonst hätten wir diese selbstverständlich umgehend abgegeben.»

David Husmann, Anwalt der Arbeiter und Präsident des Vereins für Asbestopfer und Angehörige, sagt, da sei die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers verletzt worden. Er prüft jetzt auch strafrechtliche Schritte.


von Jessica Weber 8. März 2019

Der heilige Zorn hat den Mann auf der Bühne erfasst. Mit seinem weissen Bart sieht er aus wie ein Prophet aus dem Alten Testament, er schleudert anklagende Worte ins Publikum, rattert gigantische Zahlen von Toten herunter und ruft entschlossen zum Kampf auf. «Wir wollen Gerechtigkeit», ruft er in den brechend vollen Saal, «Gerechtigkeit für das schreckliche Attentat auf die Gesundheit!» Applaus brandet auf.

Der Mann heisst Fulvio Aurora, er ist Gewerkschaftler und einer der suggestivsten Redner im Teatro Comunale am Corso del Popolo in der italienischen Stadt Monfalcone. Wo sonst Musicals oder Komödien über die Bühne gehen, fand im November die nationale Asbestkonferenz statt. 600 Gewerkschaftler, Asbestopfer, Politiker, Beamte, Epidemiologen und Asbestspezialisten füllten den grössten Saal der Stadt bis auf den letzten Platz.

Die Veranstaltung machte deutlich, dass in der leidigen Asbestgeschichte derzeit ein weiteres Kapitel aufgeschlagen wird: Die Asbestverarbeiter von einst sollen zur Kasse gebeten werden, der Kampf um Entschädigungen kommt in die entscheidende Phase, und neue Prozesse sind in Vorbereitung. Im Visier der Asbestopfer und Gewerkschaftler ist auch ein prominenter Schweizer: Stephan Schmidheiny.

Die Hafenstadt Monfalcone östlich von Triest ist nicht zufällig Schauplatz der Asbestkonferenz. Hier stehen die Fincantieri-Werften, wo man das scheinbar perfekte Mineral während Jahrzehnten massenweise zum Brandschutz in Schiffen verwendete. 400 Todesfälle von Werftarbeitern und Seeleuten werden mit Spritzasbest in Zusammenhang gebracht. Da Fincantieri neben Frachtern und Musikdampfern auch viele Schiffe für die italienische Marine mit Spritzasbest isolierte, sind jetzt zwei gerichtliche Untersuchungen parallel im Gang: eine durch die Staatsanwaltschaft, die andere durch die Militäranwälte der Procura Militare di Padova.

Asbestzement entwickelte sich nach seiner Erfindung im Jahr 1900 rasch zum Welterfolg. Auch in Italien wurde dieses solide, dauerhafte und preiswerte Material in Kürze populär. 1906 gründete der Italiener Alfredo Mazza die Eternit SpA mit Sitz in Genua. In Casale südwestlich von Mailand liess Mazza die Fabrik hochziehen, wo während achtzig Jahren Asbestzement produziert werden sollte.

1952 verkaufte die Familie Mazza Anteile an die belgische, die schweizerische und die französische Eternit-Gruppe. Mitte der siebziger Jahre war die Schweizer Eternit mit 29 Prozent der grösste Einzelaktionär und wurde nach diversen Kapitalerhöhungen zur Sanierung der Fabriken 1980 Hauptaktionär.

Stephan Schmidheiny übernahm in dieser Zeit die Eternit Schweiz, 1984 erbte er dann die ganze international tätige Gruppe. Schon Mitte der siebziger Jahre hatte er den Ausstieg aus dem Asbestgeschäft geplant – und sich damit den Zorn der internationalen Asbestzement-Industrie eingehandelt, die auf das Mineral nicht verzichten wollte.

Wie in den anderen Werken der international tätigen Eternit-Gruppe wurden in der Schweizer Periode in Casale rasch Verbesserungen eingeführt: Unter der Leitung der belgischen Eternit war Asbest zuvor noch trocken verarbeitet worden – mit entsprechender Staubbildung. Ezio Bontempelli, der zum Messen der Fasern angestellt wurde, erinnert sich, wie das Eternit-Management 1975 die Asbestverarbeitung sofort aufs Feuchtverfahren («bagnato») umstellte und damit das Risiko der Faserverschmutzung radikal verringerte.

Der Wandel im Sicherheitsdenken ist eng verknüpft mit dem Generationenwechsel bei den Schmidheinys. Die gesundheitstechnischen Umstellungen in Casale, einem riesigen Werk mit weit über tausend Arbeitern, dauerte ein Jahr. Inzwischen verschärfte sich die wirtschaftliche Lage für die italienische Eternit, denn viele kleine Eternit-Firmen konnten billiger liefern, unter anderem, weil sie lasche Sicherheitsstandards hatten.

Die Umsätze der Eternit SpA brachen innert weniger Jahre um die Hälfte ein, Verluste in Höhe von 20 Millionen Franken liefen auf, worauf die Firma 1986 Pleite ging. 1992 kam es zum Prozess gegen das Management der italienischen Eternit. Die grösste Gewerkschaft des Landes, die CGIL, und der Bürgermeister der Stadt Casale, Riccardo Coppo, hatten eine Klage eingereicht. Zwischen 1955 und 1986 waren von den erfassten 3365 Eternit-Mitarbeitern 953 Personen gestorben.

Zwei Dutzend leitende italienische Mitarbeiter und der Delegierte des Verwaltungsrates der Eternit SpA Genua, Leo Mittelholzer, kamen vor den Kadi und wurden zum Teil wegen fahrlässiger Tötung zu Haftstrafen verurteilt; bezahlt wurden rund fünf Millionen Franken.

Damit war die Geschichte jedoch nicht ausgestanden, und dabei wollen es viele Kläger auf keinen Fall bewenden lassen: «Asbestzement und die Folgen der Asbestverarbeitung in den Fabriken sind unser grösstes Umweltproblem», erklärt der Bürgermeister von Casale, Paolo Mascarino, in seinem stilvollen Büro in einem historischen Palazzo im Zentrum der Altstadt. In Casale betrieb Eternit ihre landesweit grösste Fabrik, und auch kleinere Firmen produzierten hier den gefragten Asbestzement. «Mehrere Generationen haben in dieser Fabrik ihren Lebensunterhalt verdient», sagt Mascarino, «von praktisch jeder Familie arbeitete ein Mitglied bei der Eternit.» Heute gibt es hier auf 100 000 Einwohner jährlich 15,54 Mesotheliomfälle, in der italienischen Stadt Vercelli zum Beispiel sind es nur 0,18.

«Wir sind weder auf die italienische Gründerfamilie noch auf die Belgier oder auf die Schweizer Industriellen wütend», erklärt Stadtpräsident Paolo Mascarino. «Wir wollen allerdings Hilfe von der verursachenden Industrie, um die Folgen dieser Katastrophe zu bewältigen.» Ein Fonds, aus dem die Auslagen der italienischen Kommune, aber auch Härtefälle und die Aufräumarbeiten entschädigt würden, wäre durchaus eine praktikable Lösung, meint der Sìndaco.

Nicht immer indes hat der Kampf um Entschädigungen redliche Gründe. Asbest ist auch ein Vehikel, um zu einer Rente oder einer Kompensation zu kommen. Und ein lukratives Betätigungsfeld für Juristen. «Nicht alle, die Asbest die Schuld geben, sind auch daran erkrankt», sagt in Casale etwa der Taxifahrer auf der Fahrt zum Bürgermeister, «manche wollen einfach bequem zu Geld kommen.»

Viele Forderungen haben sich bei genauer Betrachtung als unbegründet erwiesen. Inail, die staatliche Versicherung für Berufskrankheiten, vergleichbar mit der Suva, hat bisher offiziell 87 000 Gesuche als unbegründet abgelehnt – 254 703 Personen hatten sich bei der Versicherung gemeldet, 97 096 Fälle sind für eine Rente anerkannt worden.

Viele italienische Arbeiter waren auch im Eternit-Werk in Niederurnen beschäftigt – in einem aggressiven Flugblatt an der Asbestkonferenz flugs zur «Weltkapitale der Asbestzementproduktion» heraufstilisiert. «Die Exposition gegenüber der Krebs erzeugenden Faser geschah in den Schweizer Eternit-Fabriken ohne jeglichen Schutz», behauptet ein Papier der Asbestopferorganisation Associazione Esposti Amianto (AEA) und nennt das Werk «Todesfabrik» Pikant ist, dass sich ausgerechnet die Gewerkschaften, die jetzt Front gegen die damalige Asbestindustrie machen, lange gegen ein Rauchverbot für Arbeiter in den Asbest verarbeitenden Fabriken gestemmt hatten, weil dies die persönliche Freiheit tangiere. Obwohl Rauchen das Risiko, an der Lungenkrankheit Asbestose und dem Asbestkrebs Mesotheliom zu erkranken, exponentiell erhöht. Der heimtückische Krebs von Brust- oder Bauchfell wird in der Regel dreissig oder mehr Jahre nach dem Kontakt mit der Faser ausgelöst.

Bis ins Jahr 2000 hat das nationale Mesotheliom-Register 3446 Fälle erfasst. 52 Prozent der Erkrankungen sind eindeutig auf berufliche Exposition zurückzuführen. Bei weiteren 13 Prozent ist eine Berufskrankheit möglich. Von den restlichen Fällen sind 3,3 Prozent auf Asbestexponierung in der eigenen Wohnung zurückgeführt worden, rund 4 Prozent sollen wegen Asbest in der Umwelt erkrankt sein. Bei allen anderen Fällen kann die Ursache nicht festgestellt werden.

Das Asbestdrama hat in einer Kette von Prozessen Italiens Justiz auf den Plan gerufen. Gegenwärtig laufen zwei Verfahren gegen Ansaldo Breda, einen Hersteller von Rollmaterial für Eisenbahnen. 14 Manager dieser zur Finmeccanica-Gruppe gehörenden Firma sind wegen Totschlag angeklagt. Auch Pirelli, die neben Autopneus unter anderem Energiekabel produziert, steht unter Anklage, weil sie Asbest verwendet hat. Gegen Manager, die zwischen 1960 und 2000 das Sagen hatten, ist eine Untersuchung des Turiner Staatsanwalts Raffaele Guariniello im Gang. Den Managern wird die Verantwortung am Tod von 35 Arbeitern angelastet.

Die italienische Eternit steht in zwei Verfahren im Visier der Justiz. Rund hundert Mitarbeiter des einstigen Eternit-Werks im sizilianischen Siracusa ersuchten Ende November das Arbeitsgericht in Genua – ehemals Standort des Eternit-Hauptsitzes –, vorsorglich von Stephan Schmidheiny 58 Millionen Euro zu beschlagnahmen. Dass ausgerechnet der Industrielle, der gegen den Widerstand der ganzen Branche den Asbest im Werkstoff Eternit ersetzte, im Visier der italienischen Justiz steht, gehört zu den absurden Aspekten dieses Dramas. Bereits früher waren – bisher allerdings ergebnislos – zivilrechtliche Forderungen von weiteren Arbeitern und deren Angehörigen über 60 Millionen Euro erhoben worden. Eine Verhandlungsrunde zur Frage der Zuständigkeit findet nächstens statt.

In einer zweiten Ermittlung führt der Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello eine strafrechtliche Voruntersuchung durch. Dabei geht es um Todesfälle italienischer Gastarbeiter, die in Schweizer Eternit-Fabriken arbeiteten. Die Eternit AG entsprach 2003 nach anfänglicher Weigerung auf Geheiss des Schweizer Bundesgerichts dem Rechtshilfebegehren und schickte die Krankheitsgeschichten von Asbestopfern nach Turin. Eine zweite Ermittlung betrifft die möglichen Verantwortlichkeiten der Eternit-Gruppe für erkrankte Mitarbeiter im Werk Casale.

Peter Schürmann, Sprecher von Stephan Schmidheiny, blickt mit Sorge auf die Entwicklung in Italien: «In andern Ländern hat man die Geschädigten in den Mittelpunkt gerückt», sagt er. Staat, Industrie, Gewerkschaften, Versicherer und Geschädigte hätten sich zusammengetan und das Äufnen eines Fonds beschlossen, aus dem Betroffene rasch und mit vernünftigen Beträgen entschädigt werden können – alles aussergerichtlich.

«Jedes Opfer ist eines zu viel», erklärt Schürmann, «in Italien scheint es aber nicht möglich zu sein, dass die Beteiligten einen Marschhalt einlegen und überlegen, was sinnvoll im Sinne der Geschädigten sein könnte.» Stattdessen werde vor allem auf Eternit und Schmidheiny eingeprügelt, gedroht und angezeigt. «Mit der Aussicht auf jahrelange Rechtsverfahren mit ungewissem Ausgang.»

Werner Catrina ist Autor des 1985 im Orell Füssli Verlag erschienenen Buchs «Der Eternit-Report», das den Ausstieg der Schweizer Eternit-Gruppe aus dem Asbest unter dem damaligen Eternit-Besitzer Stephan Schmidheiny dokumentiert.


Veröffentlicht, 08.02.2005 Bilanz Unternehmen

von Jessica Weber 8. März 2019

Der weltweite Verbrauch von Asbest erreichte 1975 den Höchstwert von fünf Millionen Tonnen. In jenem Jahr verbot Schweden die Anwendung, in den USA trat ein Verbot von Spritzasbest in Kraft, und mehr und mehr Studien belegten den Zusammenhang der Faser mit der Krebsart Mesotheliom.

1924 wurde die mit der Asbestexposition zusammenhängende Lungenkrankheit Asbestose erstmals in einer medizinischen Fachzeitschrift erwähnt. Den Krebs Mesotheliom brachten Ärzte Anfang der sechziger Jahre mit Asbest in Zusammenhang, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte diese Krankheit aber erst später. In den Vereinigten Staaten wurde 1938 die erste Belastungsgrenze für Asbestfeinstaub erlassen: 39 Fasern pro Milliliter. Heute gilt der Grenzwert von 0,1 Fasern – beinahe 400-mal weniger. Moderne Elektronenmikroskope machten den Fortschritt möglich.

Bei der Schweizer Eternit begann das Ersetzen von Asbest durch gesundheitlich unbedenkliche Fasern im Jahr 1978 mit dem Einstieg von Stephan Schmidheiny, der die in Europa, Lateinamerika und Südafrika tätige Gruppe 1984 geerbt hatte. Heute werden weltweit immer noch rund zwei Millionen Tonnen Asbest pro Jahr verbraucht. Die wichtigsten Produzenten sind Russland (700 000 Tonnen jährlich), China (450 000) und Kanada (335 000), das auch heutzutage noch aggressiv für den Werkstoff Asbest Lobbyarbeit betreibt. Weitere bedeutende Produzenten sind Kasachstan, Brasilien sowie Simbabwe.

In Europa und Nordamerika ist die Anwendung des Werkstoffs verboten, praktisch die gesamten Tonnagen gehen in Entwicklungs- und Schwellenländer, wo die Sicherheitsmassnahmen meist unzureichend sind. Diese Länder, die aus den dramatischen Erfahrungen nichts lernen wollen, werden in ein paar Jahrzehnten die tödlichen Folgen ernten.

Veröffentlicht: 08.02.2005, Bilanz Unternehmen

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